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Identität – Was hat das mit Stottern zu tun?


Wir leben in einer unsicheren Zeit, schreibt die Schriftstellerin Elif Shafak, in der Demagogen eine Illusion von Klarheit verkaufen, eine Illusion von Sicherheit, in der Vielfalt und Pluralismus keinen Raum mehr haben: „Wir müssen Dualismus widerstehen. Natürlich ist es möglich, verschiedene Heimaten zu haben. Wir haben sie ja längst. Wenn du Atheist oder Agnostiker oder Moslem oder Christ oder Jude oder Buddhist bist, bist du natürlich nicht nur Atheist oder Agnostiker oder Moslem oder Christ oder Jude oder Buddhist, sondern gleichzeitig ein Mensch aus einer Stadt, einer Gegend, einem Land, einem Kontinent, einer Welt … einer Volksgruppe zugehörig oder mehreren, Bürger eines Staats oder mehrerer … ein bestimmtes Geschlecht oder nicht … in einem bestimmten Alter … du bist Ehefrau oder Schwester oder Bruder oder Sohn … und vielleicht Demokratin oder konservativ oder Anarchist … vielleicht vegan … Umweltschützer …“ Und sie endet: „Als Mensch ist man niemals nur eine Sache.“ (S. 46) Und Du, wie denkst Du über Dich? „Ich bin Stotterer“, „ich bin Stotterin“. Meine Mitmenschen sind Nicht-Stotterer, Nicht-Stotterinnen, sie sind Normal-Sprecher, Normal-Sprecherinnen. Wie ist das mit dem Dualismus in deinem eigenen Kopf? Wodurch wird deine Identität geprägt? Durch die Unflüssigkeit des Sprechens? Oder durch deine ganz persönliche Art, dich z.B. auf andere Menschen freundlich beziehen zu können, durch deine hervorragenden Kochkünste, deine Ausdauer beim Nordic Walking, Deine Kenntnisse über die Waldtiere und ihre Lebensweisen, deine Sammelleidenschaft, die Fülle an Witzen, die du kennst, deine Hilfsbereitschaft, die Umzüge deiner Freunde zu organisieren, deine Begabung, nun auch die dritte Fremdsprache gut zu beherrschen, deine Kenntnisse über die neuesten Software-Updates? Was macht deine eigene Identität aus? Wodurch zeichnest Du dich aus? Stellst du alle deine Fähigkeiten und liebenswerten Eigenschaften, die dich als Individuum auszeichnen, ausreichend ins Rampenlicht, gut ausgeleuchtet? Oder reduzierst du deine Vielfalt – ohne es bewusst zu merken – auf deine Art des Sprechens? Stopp, wird deine Vernunft jetzt sagen und rebellieren, natürlich bin ich viel mehr als nur mein Stottern. Ja, okay, Vernunft hin, Vernunft her. Aber wie fühlt es sich in deinem Innern an? Wie antwortet Dein Herz? Müsstest du nicht doch noch eine Herzoperation vornehmen? Gibt es da ein altes Lied, das seit Kindestagen dich umklingt, und das endlich verstummen sollte? Shafak, Elif. In: Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben. Zürich: Klein & Aber 2022, 2. Aufl.

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