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Manchmal bin ich ziemlich zugeknöpft


Ich bin eher still und schweigsam. Wenn ich beispielsweise bei einem Fest an einem Tisch mit fremden Gästen sitze, die sich lebhaft unterhalten, kostet es mich ein bisschen Überwindung, mich einzumischen. Ich mag keine Gespräche, wo der andere einen erst einmal abgeklopft: „… und was machen Sie? Ach, interessant.“ Oder die Fragen nach der Gastgeberin: „Woher kennen Sie die denn?“ Ich bin manchmal eher zugeknöpft. Ich weiß nicht, ob das ein uraltes Überbleibsel von meinem Stottern ist. Meist hat man sowas ja von seinen Eltern. Mein Vater hat selten etwas von sich aus erzählt. Wenn es einen Anlass gab, ein aktuelles Ereignis, was geklärt werden musste, dann hat er sich geäußert. Aber einfach so drauflosreden, plaudern, plappern, Witze zum Besten geben, rumspinnen oder über irgend einen ausgedachten Quatsch sprechen, das hat er nie getan. Dabei war er Künstler und hat in seinem Atelier die schönsten, skurrilsten und verspieltesten Bilder gemalt. Verrückte Geschichten erzählen, das habe ich geliebt, nicht in der Schule (das habe ich mich damals nicht getraut). Nein, als Vater, als ich mir für meine kleine Tochter Zu-Bett-geh-Geschichten ausdachte. Die waren verrückt und fantasievoll – und sprudelten von ganz allein. „Ausdenken“ ist da das falsche Wort, die purzeln aus dem Hirn, ganz ohne zu überlegen. Natürlich kann man auch als Erwachsener verrückte Geschichten erzählen. Das mache ich auch heute gerne. Sehr gerne. Wenn ich auf der Bühne improvisiere oder eine Fortbildung über soziale Angst durchführe oder zum Selbstsicherheitstraining *, dann unterstütze ich die Teilnehmer:innen dabei, aus dem Moment heraus einen Erzählfaden zu spinnen, spontan loszulegen. Aber bei einem Fest, an einem Tisch mit fremden Gästen, erzähle ich keine Quatsch-Geschichten. Obwohl ich oft denke, Mensch, hört auf mit dem Gelaber, eine Quatsch-Geschichte muss her, an der hätten jetzt alle viel mehr Freude. Manche Gäste sind manches Mal erstaunlich aufgeknöpft, auch wenn ihre Garderobe bis oben hin adrett und zugeknöpft erscheint. So mancher Schlips und gestärkte Kragen kann einen da schon in die Irre führen. Egal, Fest hin, Vorurteile her, gut wäre es schon, ein wenig Spaß am Mitmischen zu haben. Ich tue jedenfalls mein Bestes, um in meinen Therapien und Fortbildungen darauf hinzuwirken. Beim Stottern beispielsweise, wenn eine Person länger gestottert hat, dann ist es wichtig, die Freude am Reden, am Fabulieren, am Spinnen und Improvisieren zu wecken und den Spaß erleben zu lassen, der durch diese einfache Tätigkeit des Sprechens entstehen kann (s. mein Eintrag von der Zärtlichkeit in meinem Blog). Wer einmal mit dem Erzählen und Drauflosreden begonnen hat, kann manchmal gar nicht mehr aufhören. Heutzutage hätte ich das gerne mit meinem Vater ausprobiert. Aber der ist ja schon im Himmel oder sonstwo oder garnichtmehr. Aber ich bin sicher, dass er Spaß am Erzählen hätte. Er hat nie gestottert, aber er war doch ziemlich ähnlich wie viele stotternde Männer, die ich kenne. Er wäre sehr stolz auf mich, was ich mit anderen so alles anstelle und nun auch mit ihm hier im Text.


Spüre die Freude am Reden, wenn sich aus dem Moment heraus ein Erzählfaden entwickelt.

* Wenn du mehr zum Thema Selbstsicherheit und soziale Kompetenz wissen möchtest, melde dich für unser Online-Seminar am 13. Mai 2023 an: siehe hier

 

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