Wer den eigenen Schweinehund links liegen lässt (siehe meinen letzten Post),
blickt zuversichtlicher in seinen Lebensalltag und vermag endlich die Dinge zu
tun, die anstehen.
Hiervon handelt die folgende Geschichte, die nichts mit dem Stottern zu tun
hat, und sich doch – in ähnlicher Form – immer wieder bei meinen stotternden
Klienten ereignet. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich nach
Zärtlichkeit sehnt, sich aber nicht traut, eine junge Frau in der U-Bahn
anzusprechen. Die Geschichte * gebe ich hier in leicht gekürzter und
veränderter Fassung wieder:
Herr Kohler steigt die Treppe zum Bahnsteig hinab. Der Zug fährt ein, die
Bremsen quietschen. Wie jeden Morgen eilt er zum vordersten Wagen.
Da ist sie wieder. Sie nimmt die gleiche Strecke wie er. Ihre hellbraunen Haare
fallen ihr wellig ins Gesicht. Sie glänzen. Ihr Mund ist voll und weich. Die Lippen
sind nie ganz geschlossen. Oft findet er einen Platz in ihre Nähe oder stellt sich
in ihr Blickfeld. Wenn er sie nicht direkt sehen kann, richtet er es so ein, dass er
sie in den spiegelnden Scheiben der Fenster erkennt. Mal lächelt sie ihm zu,
mal lächelt er ihr zu, mal tut er so, als ob er sie nicht sähe, mal ist sie es, die ihn
gänzlich zu ignorieren scheint. Einmal ist sie eine Station früher ausgestiegen
als üblich. Prompt ist Herr Kohler am nächsten Tag auch eine Station früher
ausgestiegen. Doch sie blieb im Abteil, nickte ihm zu und grinste, als die Bahn
wieder anfuhr.
Wenn sie sitzt, liest sie meist eine Zeitung, wenn sie steht, manchmal ein
Taschenbuch. Während der 9 Stationen, die sie gemeinsam fahren, blickt sie
etwa 14 bis 21 Mal in seine Richtung, etwa 5 Mal lässt sie ihren Blick im Abteil
wandern. Wenn sie in seine Richtung schaut, machen ihre Augen stets eine
kleine Pause, bevor sie ihn erreichen und huschen dann schnell vorbei.
Höchstens dreimal blickt sie ihm länger in die Augen, etwa drei Sekunden. Herr
Kohler hat es bisher nie geschafft, sie bei diesen drei Malen unbefangen
anzulächeln und ihr zuzunicken. Diese morgendlichen U-Bahnfahrten dauern
nun schon über drei Wochen. Immer 11 Stationen. Herr Kohler will sie
unbedingt kennenlernen. Seit Jahren sucht er eine Frau, eine Frau fürs Leben.
All die Anzeigen, die er aufgegeben hat, haben nichts gebracht. Endlose
Wartereien auf der Post, um Briefsendungen abzuholen, aus denen sich dann
doch nichts ergeben hat. Partnerbörsen im Internet mag er nicht.
Abends sitzt Herr Kohler am Küchentisch, zieht seinen karierten Block heran.
Auf ein leeres Blatt schreibt er: Worte für den Anfang. Darunter notiert er: Wie
schön Sie zu sehen! Hallo, na, wie geht es? Und: Sie heute auch wieder hier? Er
steht auf und geht vor den Spiegel im Flur. Er probt: Ach, das ist ja eine
Überraschung! Er versucht zu lächeln. Er kommt sich wie ein Clown vor.
Die Frau aus der U-Bahn trägt gerne farbige Schals, sieht nach Seide aus, zart,
schmiegsam, helle Töne, grünlich-gelb, manchmal eher rot bis violett. Das
blaue Tuch mit Fransen mag er besonders. Herr Kohler steht vor dem Spiegel,
hebt seine Hände, streichelt seine Wangen. Ach, denkt er, ach wie zart würden
sich ihre Wangen anfühlen. Verzeihung, darf ich Ihre Wangen streicheln?
Herr Kohler lächelt. Nein, nein, nicht in der U-Bahn! Kommen Sie mit, einen
Kaffee trinken? Herr Kohler nickt noch einmal seinem Spiegelbild zu. Er geht ein
bisschen in die Knie. Er prüft, auf welcher Höhe im Spiegel ihre Augen wären,
und wie sie dann zu ihm hochblicken würde. Ihr Schal gefällt mir! Der Spiegel
ist viel zu klein für beide. Wenn sie neben ihm stehen würde, fällt sie bereits
aus dem Rahmen. Rufen Sie mich doch einfach mal an!
Vor dem Einschlafen setzt sich Herr Kohler an seinen Schreibtisch. Er kramt ein
paar leere Postkarten aus der unteren Schublade. Auf eine vergilbte Karte Paris
bei Nacht schreibt er langsam seine Sätze:
Ich bin Konrad, mit K.
Ich will mit ihnen gehen.
Ich freue mich, wenn Sie mich anrufen.
Ich möchte nur mal höflich anfragen, ob Sie sich mit mir treffen könnten.
Wie wär’s mit Kino, ich besorge uns Karten?
Suchen Sie auch einen Partner?
Ihre Schals gefallen mir, besonders der hellblaue mit den Fransen.
Das klingt alles blöd, denkt Herr Kohler, das muss viel feiner formuliert sein,
durch die Blume, gewissermaßen wie durch einen Seidenschal. Zart und
vorsichtig. Am nächsten Tag, es ist Samstag, springt Herr Kohler mit drei Sätzen
im Kopf die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Erster Satz: Hey, nett Sie zu sehen!
Zweiter: Wie schick Sie heute aussehen! Dritter: Hallo, was für ein Zufall. Heute
sitzt sie wie immer im mittleren Abschnitt des ersten Wagens. Er schlendert
von der Mitteltür direkt auf sie zu. Über ihr hängt das verplombte
Notfallhämmerchen in den beiden Klemmhaltern. Sie trägt den hellblauen
Schal mit den Fransen, den dunkelblauen Anorak über ihren Jeans und ihre
hellbraunen Lederpums. Ihr Gesicht wirkt schmal und blass. Nie trägt sie
Schminke. Heute hat sie ein wenig Lippenstift aufgetragen. Sie blickt ihm
entgegen und lächelt, dann zieht sie ihre Zeitung aus ihrer türkisfarbenen
Umhängetasche, beginnt aber nicht zu lesen. Zwei rote Haargummis bändigen
ihre kleinen braunen Zöpfe, die über dem Schal hin und her baumeln, wellig
und mutig. Neben ihr ist noch Platz. Er lächelt und setzt sich neben sie. Sie
schaut zu ihm auf. Er zieht seine Karteikarte aus seiner Gesäßtasche. „Hallo,
was für ein Zufall!“ Er hat es fast ein bisschen zu laut gesagt. Der Herr mit dem
Regenschirm, der vor ihm im Gang steht und beide beobachtet, legt seine Stirn
in Falten. Die Frau aus der U-Bahn nickt. Sie greift mit beiden Händen in den
Schal und macht sich ein wenig Luft am Hals.
„Nett Sie zu sehen“, sagt sie.
„Das wollte ich auch gerade sagen“, sagt Herr Kohler und hält noch immer
seine Karte in der Hand.
Die U-Bahn ruckelt und schuckelt. Er spürt ihren rechten Oberarm an seinem
linken Oberarm. „Es ist schön eng hier“, denkt er. Jetzt müsste er weiterreden.
Vor seinem inneren Auge taucht der Küchentisch auf, sein Block ist
aufgeschlagen. Aber Sätze zum Weitermachen stehen noch nicht drin. Herr
Kohler dreht seine Karteikarte um. Die Frau neben ihm beugt sich ihm ein
wenig zu und blickt auf die Kontaktdaten.
„Das bin ich“, sagt er und blickt auf ihre Pömps. Er reicht ihr die Karte.
Sie liest.
„Ich habe keine Karte dabei“, sagt sie.
„Schade!“, sagt Herr Kohler, und nach einer Pause: „Ich habe diese Karte extra
für heute vorbereitet.“
Die Frau aus der U-Bahn blickt auf die Klettverschlüsse von Herrn Kohlers
Halbschuhen. Er hat sie heute extra geputzt.
„Ich habe auch Kontaktdaten“, sagt sie. Sie lächelt: „Ich bin Eva.“
Ihre Grübchen sind süß.
Herr Kohler ist bereits 11 Stationen im Zug.
Er steht auf und blickt sie an.
Eva steht auch auf.
* siehe: „Frauen anmachen“ in: W. Wendlandt. Herr Kohler und das Leben. 38 kurze Erzählungen.
Frankfurt a.M.: edition fischer 2017
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