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Das Ding mit der Zeit




„Wer die Zeit totschlägt, verletzt die Ewigkeit.“ Das habe ich in einem Gedicht von G.R. gelesen. Verunsichert frage ich mich, ob ich zu denjenigen Menschen gehöre, die die Ewigkeit verletzen. Ich begegne der Ewigkeit mit großem Respekt, ich will ihr nicht wehtun, auf keinen Fall. Und doch, das muss ich eingestehen, kommt es vor, dass ich einfach nur rumsitze, nichts tue, nur warte, warte bis mir die Gedanken in den Schoß fallen, um Texte wie diesen hier zu schreiben. Oder ich langweile mich in der langen Schlange am Postschalter. Und auch das unnütze Herumstehen an roten Ampeln ist reine Zeitverschwendung. Da könnte ich manchmal richtig laut fluchen. Dabei gibt es eigentlich gar keine freie Zeit, die ich totschlagen könnte. Es ist nie Zeit übrig, für nichts und keinen.


Meine Frau muss mich meist mehrfach zum Abendessen rufen, an irgendeinem Kram hänge ich immer fest. Auch zum Ein- und Ausräumen der Spülmaschine reicht die Zeit nicht. Wenn Besuch kommt, um Zeit beim Gequatsche zu vertrödeln, lasse ich mich nur kurz sehen. Meine Tochter ist schon groß. Früher hätte ich zu wenig Zeit für sie gehabt, sagt meine Frau. Und – bezogen auf sich selbst – meint sie, ich könne ruhig ab und zu ein bisschen mehr Zeit für sie haben. Wie schafft man es Zeit aufzubringen, für Menschen, wenn man gar keine Zeit hat? Manche scheinen sich die Zeit anzusparen. Die ist dann irgendwo gebunkert. Vielleicht in einer Schublade im Kleiderschrank. Oder man muss sie herbeirufen, laut, richtig laut, mit einem kleinen Zauberspruch: Zeiti-oh-peiti, Zeiti-Zuck! Aber das hilft selten. Zeiti-ruck, Zucki-zack ist da schon besser.


Ich weiß gar nicht so genau, ob ich in jungen Jahren, als es noch nichts Vernünftiges zu tun gab, übermütig Zeit vergeudet habe, die mir heute fehlt. Ein Fehlbetrag, den ich nun nicht mehr wettmachen kann. Die Sehnsucht, zeitlos glücklich zu sein, ist da sehr verständlich. Das würde heißen, ohne Zeit durch den Tag zu wandern. Ich müsste dann, wenn ich es richtig anstelle, die Zeit einfach loslassen. Ich bräuchte mir nur eine richtig lange Weile zu organisieren, eine Weile die sehr, sehr lang ist. Dann käme ich ohne Zeit aus, müsste nicht immer auf die Uhr schauen, könnte endlich zeitlos glücklich sein, ja, unendlich glücklich. Dann lebt die Ewigkeit im Moment. Und die Ewigkeit und ich, wir freuen uns. Sie wird nicht totgeschlagen, und ich kann dann vielleicht doch noch in die Küche gehen und die Spülmaschine ausräumen und die Gläser polieren. Und schnell noch die Bücher in den Regalen ordnen und die Kalkablagerungen von den Armaturen wischen. Es gibt in der Tat so unendlich viele sinnvolle Dinge, die nicht bis in alle Ewigkeit verschoben werden sollten: Die alten Zeitschriften entsorgen, den Keller aufräumen, die Schulbücher vom Hängeboden verbrennen. Das ist wichtig. Bevor es zu spät ist, bevor die Soße am Geschirr antrocknet. Oder bevor die Person, mit der man sich versöhnen wollte, verstirbt.


Aber zu guter Letzt haben wir ja einen Trost: Wenn du deine Sachen wirklich auf die lange Bank schiebst, die längste Bank, die du dir vorstellen kannst, die längste Bank, die bis in die Ewigkeit reicht, dann hast du unendlich viel Zeit. Dann gibt es keine Zeituhr, die tickt. Dann gibt es auch kein Totschlagen mehr.

 
 
 

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