Heute sitze ich mit Tina, Jan und Clemens in der Therapiestunde. Sie sind sauer auf all die Menschen, mit denen sie im Alltag reden. „Ständig unterbrechen sie mich“, „Rücksichtslos!“, „Ja, das ist eine Gemeinheit!“. Okay, denke ich, was ist da los? Alle Drei gehören zu der Gruppe der Stotternden, die ihre Symptome gut kaschieren können. Sie sind in der Lage, Sätze blitzschnell umzustellen, Wörter durch andere zu ersetzen oder Gesten zu produzieren, die den Mund verdecken. Wer sich mit Stottern nicht auskennt, bemerkt nicht, dass sie stottern. Alle Drei ärgern sich über das Verhalten ihrer Gesprächspartner:innen. Wie wäre es, dieses Problem aus deren Perspektive zu betrachten? Das Gegenüber fragt sich vielleicht, warum das Gespräch so unflüssig verläuft, ständig stockt, nicht so recht weitergeht. Warum blickt Tina andauernd zu Boden? Warum hält Clemens immer wieder inne? Warum die vielen „Ääähh“ bei Jan und sein Kratzen am Kopf? Könnten da Alkohol oder Drogen im Spiel sein? Oder eine nicht-deutsche Herkunft? Die Gesprächspartner:innen sind mit einem Kommunikationsverhalten konfrontiert, das nicht üblich ist, das verunsichert, das schwer einschätzbar ist. (Wer ist schon vertraut mit stotternden Menschen?) Da liegt es nahe, selbst weiterzusprechen und das Gespräch durch Ergänzungen am Laufen zu halten. In der Therapiesitzung geht es hin und her. Schnell wird deutlich, dass die Kommunikation nicht nur auf Seiten der Betroffenen brüchig wird: Stottern führt ebenfalls zu einer Störung der Kommunikation auf Seiten der nicht-stotternden Person. Was wäre zu tun? Tina und ihre beiden Freunde zucken mit den Schultern. Eigentlich sind sie alte Hasen in Sachen Stottern. „Informiere über dein Stottern“, sage ich, „kündige zu Gesprächsbeginn an, dass du jemand bist, der/die beim Reden ab und zu stottert.“ Tina nickt, „Advertising, meinen Sie?“ Genau, Advertising (englisch: Ankündigung) ist nicht nur ein Mittel, um die eigenen Anspannungen, Unsicherheiten und Ängste zu reduzieren (man ist dann nicht mehr unter Druck, bloß nicht zu stottern). Advertising ist auch ein Mittel, um es fremden Menschen leichter zu machen, mit Stotternden zu kommunizieren. Jan stimmt zu: „Und wir könnten vielleicht am Anfang des Gespräches gegebenenfalls auch noch ein bisschen Pseudostottern einsetzen.“ Ich lache, „Ja, das könntest du gegebenenfalls, vielleicht, unter Umständen tun, eventuell ein ganz kleines bisschen.“ (Pseudostottern ist ein absichtsvoll eingesetztes Stottern, das eine starke angstmindernde Wirkung hat und ein deutlich entspannteres Reden bewirkt.) „Muss ich mich nur trauen“, kommentiert Clemens. Ja, ganz genau! Jetzt haben wir es gleich mit drei Möglichkeiten zu tun, den Kommunikationsfluss in einer Unterhaltung zu beflügeln (drei mit einem Streich): 1.) Perspektivwechsel, 2.) Advertising, 3.) Pseudostottern. Und du als Leserin / Leser fragst dich jetzt vielleicht, was machen diejenigen unter uns, die ihr Stottern nicht so gut kaschieren können? Na, das ist doch klar, für die gelten erst recht die drei Punkte! Wer nicht Advertising einsetzt, wer nicht wagt, Verantwortung für einen guten Gesprächsverlauf zu übernehmen, wer über das Stottern nicht reden und ggf. auch nicht informieren kann, der sollte nicht erwarten, dass Unterbrechungen, Ungeschicklichkeiten und Bevormundungen durch Gesprächspartner:innen abnehmen. Hört sich hart an? Okay. Aber: Diese Art, selbstsicher seine Kontakte zu gestalten, kann jede stotternde Person erlernen. Ich stehe zu mir, ich verstecke mich nicht, ich zeige mich wie ich bin! Damit wäre dann auch noch ein vierter Punkt gebongt, das zentrale Ziel jeder Eigenarbeit und Therapie: 4.) Die Akzeptanz des eigenen Stotterns. Das ist doch was! Oder?
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