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Unverschämtheit




Ich stehe im Postamt und ärgere mich. Endlose Schlangen, das kann dauern. Dabei will ich doch nur wissen, wie teuer ein Paket S nach Australien ist und ob die Pandemie bedingten Beschränkungen noch gelten. Kann das nicht ein bisschen schneller gehen, denke ich – am liebsten würde ich laut rufen, los!, los!, schneller!, schneller! Aber ich will keinen Aufstand machen – und öffentlich rufen geht schon gar nicht. Da fällt mir eine frühere Geschichte ein, von der ich in „Mein Stotter-ABC“ berichtet habe (s. dort S. 164). Ich fasse sie hier noch mal zusammen. Es geht um Mut, der ja angeblich gut tut: Ich stehe im Postamt, lange Schlange, ätzend. An der Seite steht ein junger Mann, lässig gekleidet, sympathisch, mit einem Lächeln im Gesicht. Plötzlich marschiert er an der Schlange entlang bis zum Schalter nach vorn, unterbricht die Kundin, die dort gerade ein Paket auf die Waage legte, und spricht den Postbeamten an. Ich kann nicht hören, worum es geht. Der Mann hinter mir nuschelt halblaut: „Unverschämtheit!“ Weiter vorn erklingt eine schrille Stimme: „Hinten anstellen gefälligst!“ Ich denke an meine In-vivo Sitzungen mit meinen stotternden Klient:innen, bei denen es um den Aufbau von Selbstsicherheit in alltäglichen Kommunikationssituationen geht. Gehört der junge Mann zu einer Klientengruppe und übte gerade Selbstbehauptung? Wo sind die anderen? Wo ist die Therapeutin / der Therapeut? Natürlich gibt es Gründe, ganz vorne kurz eine Frage zu stellen, statt umsonst gewartet zu haben. Ist dieses Vordrängeln statthaft? Welcher stotternden Person würde ich eine solche Aufgabe geben? Gedankenverloren bin ich stehen geblieben. Vor mir klafft eine Lücke in der Schlange. Der nuschelnde Herr hinter mir stößt mich an. Ich solle vorgehen. Vielleicht gehört er auch zu der Trainingsgruppe. Sein „Unverschämtheit“ hatte sich reichlich zaghaft angehört. Vorne, die große Frau mit Käppi und dem lauten „Hinten anstellen“ gehört vielleicht ebenfalls zur Trainingsgruppe. Auffallen, die Stimme laut im Raum erklingen lassen, oder eine wichtige Frage freundlich mit einem charmanten Lächeln einwerfen, sich in ein laufendes Gespräch hineindrängeln, all das könnte ich mal in meiner nächsten In-vivo-Sitzung erproben lassen. Denn unauffällig bleiben bringt wenig Vorteile. Auffälligkeit wagen bedeutet hingegen, sich die Erlaubnis zu erteilen, aus dem Schatten ins Licht zu treten.


Ja, soweit die Geschichte aus dem Buch. Eine Geschichte aus dem Leben, die viel Mut erfordert hat, wurde von Almut und Susanne, Dorit und Agatha geschrieben. Sie sind ins Licht getreten, in die Öffentlichkeit. Sie zeigen, wie sie mit dem Handicap Stottern und den Benachteiligungen als Frau selbstbewusst umgegangen sind. Du kannst dir ihre Erfahrung im Video-Podcast Folge 3, „Frausein und Strottern“, hier ansehen und anhören.

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